Der Hexenzirkel Ihrer Majestät - Das begabte Kind

Der Hexenzirkel Ihrer Majestät - Das begabte Kind

Juno Dawson

Eine Prophezeiung, ein begabtes Kind und die Apokalypse. Die Welt verändert sich, und vier Hexenschwestern müssen sich einer dunklen Bedrohung stellen. Juno Dawsons Debüt für Erwachsene, und der Auftakt einer queeren Urban-Fantasy-Trilogie.

Knaur Verlag, 2022

ISBN:
9783426528792
Preis:
16,99€

25 Jahre zuvor

Am Abend vor der Sommersonnenwende saßen fünf Mädchen versteckt in einem Baumhaus. Die Hütte, die zu stabil und eigentlich auch viel zu schön war, um als solche bezeichnet zu werden, wurde von den knorrigen Armen einer dreihundert Jahre alten Eiche
gehalten. Unten, in Vance Hall, wurden die letzten Vorbereitungen für die Feierlichkeiten des nächsten Tages getroffen. Viel geplant
wurde allerdings nicht mehr, die Erwachsenen schienen die Zusammenkunft eher zum Anlass zu nehmen, zwei Tage in Folge einige der
besonders staubigen Weinflaschen aus dem Keller zu holen. Beschwipst war noch eine Untertreibung für den Zustand der Ältesten,
die deshalb die Abwesenheit der Mädchen gar nicht bemerkt hatten.
Oben im Baumhaus war die Jüngste, Leonie, wütend, weil die Älteste, Helena, gesagt hatte, sie könne nicht Stephen Gately von
Boyzone heiraten. »Dann spiele ich nicht mit«, maulte Leonie.
Im Fenster des Baumhauses standen einige brennende Kerzen, darunter wuchsen klumpige Stalaktiten aus Wachs. Bernsteinfarbenes Licht tanzte an den Wänden und warf flüchtige Schatten auf Leonies Gesicht. »Warum darf Elle immer als Erste aussuchen?«
Elles Unterlippe zitterte, ihre babyblauen Augen füllten sich mit Tränen. Mal wieder. Darum durfte Elle immer als Erste aussuchen.
»Sie könnten doch beide Stephen heiraten«, schlug Niamh Kelly vor, die schon immer die Diplomatische von ihnen gewesen war.
»Nein, können sie nicht!«, sagte ihre Zwillingsschwester laut. »Wie soll das denn gehen?«
Niamh warf ihr einen finsteren Blick zu. »Wir werden ja auch nicht wirklich jemanden von Boyzone heiraten, oder, Ciara? Wir
sind erst zehn!«
»Wenn Elle zwanzig ist, ist Stephen dreißig, das ist okay«, sagte Helena bestimmt.
Mit geballten Fäusten stand Leonie auf, als wolle sie das Baumhaus verlassen.
»Na schön, bevor du wegrennst wie ein Baby!«, lenkte Helena ein. »Dann nehmt eben beide Stephen. Armer Keith.«
Leonie stieß die Luke mit dem Fuß auf. »Darum geht es doch gar nicht, Helena. Es ist nur ein Spiel. Ein dämliches Spiel. Außerdem
habe ich doch eh schon gesagt, dass ich den Prinz von Bel-Air heiraten werde.«
Einen Moment lang schwiegen sie, denn alle wussten, was Leonie eigentlich auf der Seele lag – ihnen allen. Die Kerzen flackerten,
und ein betrunkenes Johlen schallte vom Haus zu ihnen herauf.
»Ich will das morgen nicht machen.« Endlich sprach Leonie aus, worum es wirklich ging. Sie trat zurück zu den anderen und setzte
sich im Schneidersitz auf den Teppich. »Mein Dad will nicht, dass ich es mache. Er sagt, es ist böse.«
»Dein Dad ist ein Hohlkopf«, blaffte Ciara.
Niamh, die dreieinhalb Minuten älter war als ihre Zwillingsschwester, sagte: »In Irland gelten wir als Glückskinder.«
»Findet er etwa auch meine Großmutter böse?«, fragte Elle. »Sie ist die netteste Person auf der ganzen Welt!«
Für Leonie war es schwerer als für die anderen. Sie war die Erste in ihrer Ahnenlinie (zumindest soweit sich jemand erinnern konnte), die die Gabe hatte. Wie sollte Helena das verstehen? Ihre Mutter, die Mutter ihrer Mutter und alle Vance-Mütter davor waren ebenfalls gesegnet gewesen. »Leonie«, sagte Helena mit der absoluten Gewissheit, die nur eine rechthaberische Dreizehnjährige an den Tag legen konnte, »das wird ein Kinderspiel, nicht schwieriger als das Morgengebet in der Schule. Wir stellen uns auf, schwören
unseren Eid, Julia Collins wird dich segnen und fertig. Eigentlich ändert sich überhaupt nichts.«
In das eigentlich legte sie besonders viel Überzeugungskraft, doch im Grunde ihres Herzens wussten sie alle, dass es eine Lüge war. Es gab nur noch wenige von ihnen, und mit jeder Generation wurden es weniger. Dieses Leben, dieser Eid, war eine andere Sache als Ciaras zweifelhafte Entscheidung, sich mit einer Nagelschere einen Pony zu schneiden. Der war bald wieder rausgewachsen, doch
nach morgen würde es kein Zurück mehr geben. Dabei war Leonie erst neun.
»Ich bin auch aufgeregt«, sagte Elle sanft und griff nach Leonies Hand.
»Ich auch«, sagte Niamh und sah ihre Schwester auffordernd an.
»Irgendwie schon«, stimmte auch Ciara widerwillig zu.
Helena holte eine der Kerzen und stellte sie in die Mitte des fleckigen, alten Teppichs. »Los, bildet einen Kreis«, sagte sie. »Wir üben den Eid.«
»Muss das sein?«, ächzte Ciara, doch Helena brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. Sie ließ sich von den Zwillingen nicht einschüchtern, auch wenn die Ältesten nicht müde wurden, sie und ihre Fähigkeiten zu loben.
»Wenn wir ihn auswendig kennen, müssen wir keine Angst haben, oder?«
Niamh wusste, dass es Leonie helfen würde, und wies ihre Schwester zurecht. Die Mädchen stellten sich im Kreis um die Kerze und hielten sich an den Händen. Schwer zu sagen, wie viel davon ihrer Fantasie geschuldet war, doch später sollten alle fünf schwören, dass ein Energiestoß durch ihren menschlichen Kreis strömte und ihre verborgenen Kräfte teilte und verstärkte.
»Alle zusammen«, sagte Helena, und sie begannen:

Der Mutter schwöre ich
Der heiligen Schwesternschaft die Treue zu halten
Ihre Kraft will ich führen
Das Geheimnis wollen wir wahren
Die Erde wollen wir schützen
Der Feind einer Schwester ist auch meiner
Die Gabe ist göttlich
Unser Bund immerwährend
Kein Mann soll uns entzweien
Der Zirkel ist Hoheit
Bis zu meinem letzten Atemzug.

Sie kannten jedes einzelne Wort.

Am folgenden Abend durften sie zum ersten Mal ihre mitternachtsschwarzen Samtumhänge anlegen. Sie rochen ganz neu, nach dem Plastik, in dem sie geliefert worden waren. Sie waren zu lang (»ihr werdet schon noch hineinwachsen«), also hielten sie sie hoch, damit der Saum nicht im Gestrüpp hängen blieb, während sie PendleHill hinaufstiegen.
Die Prozession schlängelte sich den Hügel hinauf ins Herz des Waldes, der das Tal wie ein dichtes Fell bedeckte. Jede von ihnen trug eine Laterne in der Hand, doch bei Nacht war dieser unwegsame Pfad trotzdem ein richtiger Knöchelkiller. Endlich gaben die dunkelgrauen Schemen der Bäume den Blick auf eine vom Mondlicht beschienene Lichtung frei, in deren Mitte ein flacher Felsen lag. Eine Kraft umgab diesen Ort – das hätte auch der unempfänglichste Mensch gespürt.
Den Mädchen war es unheimlich, inmitten der Ältesten zu stehen. Einhundert Frauen, die Gesichter halb unter den Kapuzen verborgen. Noch unheimlicher war, wie jede Einzelne, eine nach der anderen, an die steinerne Tafel trat und ihr Opfer brachte. Mit einer silbernen Klinge stachen sie sich in den Finger und ließen einen winzigen Tropfen Blut in den Eibenholzkessel fallen. Julia Collins, deren würdevolles Gesicht unter ihrer Kapuze hervorlugte, rief die Mädchen nacheinander auf. Sie tranken aus dem Kelch, und als ihre Augen schwarz wurden, tunkte sie den Finger in die Schale aus Eibenholz und zeichnete ihnen das Mal des Pentagramms auf die junge Stirn.
Und als um eins aus dem Dorf in der Ferne der einsame Uhrenschlag erklang, waren sie keine Mädchen mehr und zu Hexen geworden.

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